Als ich dir Zeitung zublätterte und dem Papierabfall übergab, das leere Wasserglas auf die Spüle stellte und nun bald anfangen würde einen Stapel Dokumente in die erforderlichen Ordner abzuheften, überkam mich der Gedanke, wie seltsam es sich anfühlte, nichts in sich übrig zu lassen von den Qualen der Welt als die von jeglichem Gefühl bereinigten Fakten in meinem Kopf ohne Zugang zu meinem Herzen. Wie kalt das ist, dachte ich. Und ich wusste, dass sich selbst die wenigen Meldungen, über die ich während meinem rituellen vormittäglichen Lesen der Zeitung tatsächlich nachgedacht hatte, verdauen lassen würden, weggespülte Informationen im Strom der Alltäglichkeiten. Ich setzte mich an den Schreibtisch und legte die Hand auf den Stapel von Rechnungen, Bescheiden und Unterlagen, die mir zusammen mit den bereits eingeordneten Papieren in den an der Wand sorgfältig stehenden und beschrifteten Aktenordnern Auskunft über den Stand meines Lebens gaben. Was ich mir kaufen konnte, wie viel Geld meine Frau nach meinem Tod bekam, wann die Kredite abgezahlt sein würden, wie hoch die Miete war, wogegen ich versichert und wofür ich ausgebildet war, das alles stand da in Reihe, A4 an A4, schwere Stapel, mein Leben als Dokumentation. Während ich das Sortieren der Unterlagen bislang beinahe meditativ verrichtete, meist ein Lied summend, bis das letzte Blatt Papier seinen Weg in die Ordnung gefunden hatte, fühlte ich mich nun eigenartig befremdet. Was tat ich da? Was hatte meine Ordnung, mein in gerader Spur befindliches Leben mit den Dingen zu tun, die ich doch Tag für Tag in der Zeitung las? Dass Aufständische Afganen Kinder exikutierten ließ sich schlecht in Verbindung bringen mit der Jahresabrechung meines Energieversorgers, die ich lochte und im Ordner "Strom, Gas und Wasser" abheftete. Anders als sonst lenkten mich meine Angelegenheiten nicht ab sondern wiesen mich vielmehr auf die Tatsache hin, wieviel Raum zwischen mir und der Welt sein musste. Zwischen diesem Schreibtisch und dem riesigen Eisberg der nun von Grönland wegtrieb, den Bränden um die russischen Atomaufbereitungsanlagen, den über fünfzig Kriegen weltweit, den Überschwemmungen, Verstümmelungen, Vergewaltigungen, den Menschen- und Drogenhandel, Mafiamorden, Dürren und Hungersnöten, Korruptionen und Betrügereien, dem blinden allheiliggesprochenen Wachstumsparadigma, ja was den sonst...
Es klingelte. Den Hörer ein paar Zentimenter von meinem Ohr weghaltend vernahm ich die Stimme des Postboten. Ein Paket mit meinem Namen als Adressat. Ich ließ ihn herein, den Türöffner hörte ich noch an der geöffneten Wohnungstür im Hausflur summen, an der ich lehnte und, wie aus einem Traum erwacht, schläfrig wartete, bis ich meine unleserliche Unterschrift auf dem Display des Buchungsgeräts des Boten hinterließ und mich fragend daran machen würde, das Paket auszupacken, wohl wissend, dass es sich um den Satz handgestrickte sorbischer Topflappen handeln würde, den ich meiner Frau zum Hochzeitstag schenken würde. Doch der Postbote kam nicht mehr.
1 Kommentar:
als ich N. kennenlernte, fragte ich mich auch mal, wenn man soviel liest, wohin verschwindet das alles? das kann man sich doch niemals merken. vielleicht kann man mit all dem hintergrundwissen sein eigenes leben anders einordnen. oder auf einer Party von Politikstudenten glänzen. meine alte These, hast du die Zeitung nicht gelesen, kommst du genauso gut voran. ich tus trotzdem. is vlt. auch einfach eine schöne art entspannter Beschäftigung.
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